Gemeinsam gegen die Gewalt auf der Straße

13.09.2024

Der 11. September ist der Tag der Wohnungslosen. „Schade, dass wir so einen Tag brauchen“ beginnt Bruder Michael seine Begrüßungsrede des Themenabends. Die Frankfurter Liebfrauenkirche ist gut gefüllt. Die Stimmung nachdenklich. Als der Leiter des Franziskustreffs weiter ausführt, warum er und die Kolleginnen und Kollegen diesen Jahrestag nutzen: „Wir möchten auf ein großes Problem für obdachlose Mitmenschen aufmerksam machen: Gewalt auf der Straße.“ Denn besonders Menschen, die auf der Straße leben, sind davon bedroht. Er berichtet weiter, von eigenen Erlebnissen in der Frankfurter Innenstadt. Und aus dem Alltag beim Frühstück und in der Sozialberatung im Franziskustreff. „Wenn viele Menschen auf der Suche nach Hilfe zusammentreffen, kommt es auch zu Auseinandersetzungen, Beleidigungen, manchmal auch Handgreiflichkeiten. Denn in der Not kämpft jeder für sich. Psychische Erkrankungen, die entweder in die Obdachlosigkeit geführt haben oder durch sie entstanden sind, verschärfen das Problem.“

Dass Aggressionen zunehmen, ist gesamtgesellschaftlich zu beobachten. Das spiegelt sich auch im Franziskustreff wider, der morgens einen Sicherheitsdienst beschäftigt, um die Sicherheit für Gäste, aber auch für Mitarbeitende, zu gewährleisten.

Gewalt unter Obdachlosen ist geprägt von verbalen Attacken, Erpressung, Diebstahl, Vertreibung vom Schlafplatz bis hin zu körperlicher Gewalt. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Denn auf der anderen Seite droht Menschen, die schutzlos im öffentlichen Raum leben, auch Gewalt von Menschen, die ein sicheres Zuhause haben. Die Ursachen dafür gehen oft mit Unwissen darüber einher, was Menschen in die Obdachlosigkeit bringt und was es wirklich heißt, auf der Straße überleben zu müssen. Dazu kommen Vorurteile. „In Deutschland muss doch niemand auf der Straße leben“ ist dann oft zu hören. Und Betroffene werden somit schnell als faul und unfähig abgetan. Herabwürdigende Bezeichnungen wie „Penner“ oder „Stadtstreicher“ sind leider immer noch weit verbreitet im Sprachgebrauch. Wer dermaßen entmenschlicht wird, wird eher als ein „leichtes Opfer“ gesehen. Und hat weniger Chancen in der Not ernstgenommen zu werden und schnell die benötigte Hilfe zu bekommen. Denn er ist ja „selber schuld“.

Geschichten schaffen Zugang

Dass damit bereits die Gewalt gegen Obdachlose beginnt, dafür schafft auch die Autorin Franziska Franz am Themenabend wichtige Aufmerksamkeit. Sie liest aus ihrem Buch „Frankfurt Hunters“. Eine der Hauptfiguren in dem packenden Thriller ist obdachlos. Sehr empathisch zeigt die Autorin, auf wie viele Arten obdachlose Menschen in ihrem Alltag Gewalt erfahren: verbale, ausgrenzende bis hin zu körperlicher.  In ihrer Geschichte über das Leben eines alten Mannes, der im Frankfurter Stadtwald lebt, vermittelt sie für jeden nachvollziehbar, wie schnell es jedem passieren kann, alles zu verlieren. Und welche Herausforderungen ein Überleben ohne schützendes Zuhause mit sich bringt.

„So ist das wirklich!“

„So ist das wirklich!“ erfahren die Anwesenden nach der Lesung aus den Reihen der Zuschauenden. In der abschließenden Frage- und Diskussionsrunde fasst einer der Gäste des Franziskustreffs Mut und erzählt bewegend, was er bereits erleben musste. Wichtige Botschaft des Abends: Gewalt gegen Obdachlose beginnt nicht erst bei körperlicher Gewalt. Und es ist wichtig dafür zu sensibilisieren. Denn aus Worten werden irgendwann auch Taten: Meiden und verächtliche Blicke. Mal den Kleingeldbecher im Vorbeigehen wegkicken. Ein paar Beleidigungen mit auf dem Weg geben. Das sind dabei noch die harmloseren Angriffe. Weitere Bedrohungen sind existenzieller: Vergewaltigung, Überfall oder das Anzünden von Schlafplätzen - während jemand im Schlafsack liegt. Besonders in rechtsextremen Kreisen werden die „Taugenichtse“ zunehmend als willkommenes Opfer für Prügel bis hin zum Tod gesehen. Weil sie nicht in deren Weltbild passen.

Keine Zahlen – kein Problem?

Die strukturelle Diskriminierung Betroffener zeigt sich auch darin, dass die Fälle der Gewalt an Obdachlosen bis 2011 kriminalstatistisch gar nicht erfasst wurden. Allerdings verfolgt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe seit 1989 systematisch Zeitungsberichte und sammelt so Daten zu Tötungsdelikten an Obdachlosen. Und differenziert darin auch zwischen Tätern, die ebenfalls auf der Straße leben und Tätern, die eine Wohnung haben.

Der Geschäftsführer der Franziskustreff-Stiftung Thomas Koch berichtet in seiner Ansprache über diese Zahlen. Und weist dabei auf die große Dunkelziffer hin. Denn auch wenn mittlerweile eine Erfassung stattfindet, kommt ein Großteil der Taten nicht zur Anzeige. Wenn beispielsweise Betroffene selbst in Konflikten mit der Polizei stehen, weil sie in ihrer Not straffällig durch Diebstahl oder Fahren ohne Fahrschein geworden sind. Manche sind in die Unsichtbarkeit komplett abgetaucht. Meiden menschliche Kontakte. Auch zu ihrem Schutz. Besitzen keine Ausweisdokumente mehr, um ihre Identität zu bestätigen. Oft erleben obdachlose Menschen, dass sie weniger ernst genommen werden, wenn sie um Hilfe bitten. Auch bei Behörden und öffentlichen Stellen begegnen sie immer wieder Menschen, die über Obdachlosigkeit wenig wissen und entsprechend voreingenommen sind.

So war der Themenabend mit Lesung eine Einladung, mehr zu dem Thema Obdachlosigkeit und Gewalt auf der Straße zu erfahren. Und um Bewusstsein zu schaffen, Missverständnisse aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Hilfestellung anzubieten, wie jeder in unserer Gesellschaft dazu beitragen kann, die ohnehin schon schwierige Lebenslage obdachloser Mitmenschen zu erleichtern.

Wie helfen, ohne selbst in Gefahr zu geraten?

Am wichtigsten ist es, sich den menschlichen Blick zu bewahren. Gerade, wenn jemand nicht so glücklich im Leben steht. Im Ernstfall hinzusehen. Den Notruf zu wählen und Hilfe zu holen. Als Zeuge und Fürsprecher für die angegriffene Person  zu fungieren. Das alles sind Möglichkeiten direkt zu helfen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Oder, wenn es die Situation zulässt, sich mit anderen zusammenzutun. Oft lassen Täter schon von ihrem Opfer ab, wenn sich ihnen jemand entgegenstellt und zeigt, dieser Mensch ist nicht allein.

„Die Täter, die eines Abends eine obdachlose Frau direkt hier in der Innenstadt angegriffen haben, sind weggerannt, als ich um die Ecke kam.“ bestätigt Bruder Michael aus seinen Erfahrungen.

Und viele kamen

Der Franziskustreff und seine Stiftung danken allen, die dieser Einladung gefolgt sind und sich dem Thema geöffnet haben. Und ein ganz herzlicher Dank geht an Franziska Franz, die diesen Abend mitgestaltet und mit der Lesung aus ihrem Buch „Frankfurt Hunters“ bereichert hat. Ergänzend zu den sachlichen Zahlen und Fakten, hat die Autorin den Menschen das Thema literarisch nähergebracht. Und mit ihrer Geschichte geholfen, die Problematik nachvollziehbarer für Menschen zu machen, die selbst nicht betroffen sind. Denn mehr Verständnis für diese prekäre Lebenslage hilft obdachlosen Menschen, indem ihnen weniger Vorurteile begegnen und dafür mehr Hilfsbereitschaft. Dass das den Alltag und den Weg zurück in die Mitte der Gesellschaft vereinfachen kann, erleben wir auch im Franziskustreff.

Nicht zuletzt ein großer Dank an den Organisten Benedikt Milenkovic und Hyebeen Joo an der Geige. Sie schenkten dem Abend einen würdigen musikalischen Rahmen. Besonders ihre Darbietung des Liedes „Und viele kamen“, das einst für den Franziskustreff zum 20. Jubiläum geschrieben wurde, entfaltete sich eine ganz besondere Atmosphäre.

Gelungener Auftakt

Die Franziskustreff-Stiftung möchte auch zukünftig Anlässe wie diesen schaffen. Menschen aus den verschiedenen Lebensrealitäten einladen sich zu begegnen. Ein Forum bieten, sich direkt auszutauschen. Mit der Chance einander zu verstehen. So hilft die Franziskustreff-Stiftung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffenen Menschen über das Frühstück und die Sozialberatung hinaus. Gern mit Ihnen gemeinsam. Für und mit Menschen in Not.

Frankfurter Autorin Franziska Franz liest aus ihrem Buch „Frankfurt Hunters“. Darin hat sie sich literarisch mit dem Thema "Gewalt auf der Straße" auseinandergesetzt.

Organist Benedikt Milenkovic und Hyebeen Joo an der Geige verliehen dem Abend einen wunderbaren musikalischen Rahmen.